Die Hanse und ihre Privilegien: Wirtschaftlicher Vorteil oder Selbstzweck?
Eine Analyse der Hanserezesse mit Hilfe digitaler Methodik
Inga Lange
Im Rahmen des Flow-Projekts widme ich mein Promotionsvorhaben einer umfassenden Untersuchung der hansischen Handelsprivilegien und ihrer Bedeutung für das Funktionieren der Hanse. Im Mittelpunkt steht dabei meine Annahme, dass Privilegien als verbriefte Sonderrechte über die rund 300-jährige Geschichte der Hanse hinweg nicht nur den Handel sicherten und regelten, sondern auch eine zentrale politische Rolle für das Selbstverständnis der Hanse spielten. Erstmals analysiere ich dafür ausgewählte Hanserezesse aus dem Zeitraum von 1358 bis 1669 systematisch unter Einsatz digitaler Methoden.
Mit meinem Projekt lege ich somit nicht nur erstmals eine umfängliche Studie zur Bedeutung der Privilegien für die Hanse vor, sondern stelle durch den langen Untersuchungszeitraum auch eine Langzeitanalyse zur Hanse bereit.
Hintergrund
In der Forschung herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das gemeinsame Aushandeln von Handelsprivilegien durch Kaufmannsgruppen im 12. und 13. Jahrhundert entscheidend zur Entstehung der Hanse beigetragen hat. Wie Rolf Hammel-Kiesow betont, war der »Kampf um den Erhalt dieser Privilegien« ein zentrales Element der hansestädtischen Politik vom 12. bis ins 17. Jahrhundert. Privilegien prägten somit die gesamte Geschichte der Hanse und galten als maßgeblicher Grundpfeiler ihres wirtschaftlichen Erfolgs, da sie Transaktionskosten senkten und den Fernhandel erleichterten.
Während die Bedeutung dieser Handelsrechte für das Mittelalter bereits intensiv erforscht wurde, ist ihr Stellenwert für die Hanse in der Frühen Neuzeit bislang wenig beleuchtet worden. In der Forschung wird teilweise vertreten, dass der Wert der Privilegien durch politische und wirtschaftliche Veränderungen im frühneuzeitlichen Europa abnahm und die Hanse an veralteten Strukturen festhielt. Genau hier setze ich an indem ich systematisch untersuche in welchen unterschiedlichen Kontexten Privilegien auf den Hansetage diskutiert wurden, um so ein neues Verständnis ihres Stellenwerts für die Hanse zu gewinnen – über den wirtschaftlichen Wert hinaus.
Methodisches Vorgehen
Um die Privilegienpolitik der Hanse zu erforschen, werte ich die Hanserezesse aus – die Protokolle der Hansetage zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Diese bilden eine einzigartige Quelle, da sie zentrale wirtschaftliche, rechtliche und politische Entscheidungen der Hanse dokumentieren.
Um diese Quellen zugänglich zu machen und gezielt nach der Privilegienpolitik der Hanse zu analysieren, arbeite ich mit einem mehrstufigen digitalen Workflow:
- Im ersten Schritt werden die Quellen transkribiert. Die Rezesshandschriften liegen in mittelniederdeutscher und hochdeutscher Sprache vor und weisen unterschiedliche Schriftarten auf. Mithilfe von Handschriftenerkennung (HTR) werden die Texte automatisch transkribiert. Dafür wurden eigens Modelle trainiert, die auf die jeweiligen Jahrhunderte zugeschnitten sind. Die Modelle sind teilweise durch das Citizen-Science-Projekt »Hanse.Quellen.Lesen!« entstanden sowie im Rahmen des Flow-Projekts entwickelt worden. So entstehen maschinenlesbare Transkripte, die als Basis für die weitere Analyse dienen.
- Im zweiten Schritt wird ein Subkorpus gebildet, das nur die relevanten Textstellen enthält. Aus dem großen Textbestand filtere ich gezielt jene Passagen heraus, die verbriefte Handelsrechte betreffen und durch verschiedene Begriffe wie etwa »Privilegien«, »Freiheiten« oder »Kaufmannsrechte« abgebildet sind. Um auch unterschiedliche Schreibweisen und mögliche Erkennungsfehler zu berücksichtigen, nutze ich Verfahren wie fuzzy search und Clustering. Dadurch entsteht ein verkleinertes, thematisch fokussiertes Subkorpus, das sich für eine manuelle Annotation eignet.
Die ausgewählten Textstellen markiere und annotiere ich anschließend in dem webbasierten Annotationswerkzeug INCEpTION nach einem eigens entwickelten Kategorienschema. Dieses Schema unterscheidet verschiedene Verwendungskontexte, in denen Privilegien auftreten können – zum Beispiel:
- als Schutz- oder Erwerbsrechte,
- als Gegenstand von Beschwerden und Konflikten,
- als Mittel innerhansischer Organisation oder
- als Argument in diplomatischen Verhandlungen.
Durch diese Annotation erfasse ich die Vielschichtigkeit der Quellen systematisch. So kann ich die unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen von Privilegien – als wirtschaftliches Instrument, politisches Druckmittel oder Identitätsmarker – strukturiert herausarbeiten.
Das annotierte Datenset ermöglicht mir, die Privilegienpolitik sowohl qualitativ (durch inhaltliche Tiefenanalyse einzelner Fälle) als auch quantitativ (durch statistische Auswertung von Häufigkeiten, Zeitverläufen und Mustern) zu untersuchen. So lassen sich Veränderungen über die Jahrhunderte nachzeichnen und die Rolle von Privilegien im politischen und wirtschaftlichen Handeln der Hanse differenziert erfassen.
Damit zeige ich zugleich, wie sich umfangreiche historische Quellenbestände mit digitalen Methoden erschließen lassen – und wie die Hanseforschung durch innovative Ansätze neue Perspektiven gewinnt.